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>> Akteure des Verschwindens



„Ein ganz anderer, nicht zu fassender Schimmer lag derweil auf der Trilogie «Akteure des Verschwindens». ... Dazu bitten Müller und seine beiden jungen Performer Susann Hempel und Olaf Helbing die Zuschauer in ein plastefurniertes Gehäuse aus lauter DDR-Schrankwänden, aus dem man durch Glasfächer in Augenhöhe in die umliegenden Gange blicken kann.
Bequemer ist es allerdings, das Flurgeschehen auf den im Ostwahnzimmer installierten Bildschirmen zu betrachten: Der Student Frederic Moreau, sieht man da, kehrt, durchaus in historischem Kostüm, aus Paris in die Provinz zurück - verliebt in die schöne, verheiratete Madame Arnoux und an scheinend voller Tatendrang: Die Revolution - die, die sich als Farce wiederholt - steht vor der Tür. Wie jedoch Frederics kurze Euphorie immer größerer Unentschlossenheit und Larmoyanz zu weichen beginnt, das spielen Susann Hempel (in sämtlichen Frauenrollen) und Olaf Helbing in der großartig düsteren Stimmung rund um die Schrankwände in knappen Szenen an.
Der zweite Teil "Pathos & Revolution“ besteht allein aus einem Film, der absichtsvoll ziellos zwischen wortkarger Schwermut und hysterischer Rastlosigkeit hin- und herflackert. Das historische Geschehen mischt sich weiter in Frederics Biographie: Er hat geerbt und das Studium abgebrochen, sympathisiert jetzt abwechselnd mit revolutionär gestimmten Künstlern und reaktionären Großaktionären. Und sitzt wie gelähmt bei der so sehr begehrten und im Grund recht einladenden Madame Arnoux. Janek Müler hat mit der Super8-Kamera und zwei weiteren (polnischen) Schauspielern in der verblichenen Pracht eines Krakauer Hotels gedreht und den Film nachträglich so bearbeitet, dass er nicht mehr fotographisch, sondern wie eine neoimpressionistische Bilderstudie aus der Leipziger Schule wirkt.
Auch wenn die kurze Wiederbegegnung von Frederic und Madame Arnoux im Schrankwandkessel die antinostalgische und zutiefst bürgerliche Melancholie noch einmal auf den Punkt bringt ("Wie glücklich wären wir gewesen ...“) - die beiden Autodidakten sind der verletzlichste Punkt der Trilogie. Doch Janek Müller bettet selbst Olaf Helbings Spannungshänger in seine pathetisch aufgeladenen Atmosphären, als müsste es genau so sein. Sie lassen die Konfrontation von franzosischem 19. Jahrhundert und postrevolutionärer Ostprovinz nicht nur als die plausibelste, sondern auch schwermütigste Sache der Welt erscheinen.“
Theaterheute, Eva Behrendt, 12/04



Ein Weib, vereinsamt
Eine Frau sitzt auf der Couch und schaut. Lang sind ihre Blicke, und sie führen weit weg, ins Innere einer traurigen Gefühlswelt. Was wird sie wohl denken? Vielleicht versucht sie sich den Moment vorzustellen, an dem das Warten ein Ende hat. Und vermutlich ahnt sie nur allzu sehr, dass dies der längst nicht absehbare Augenblick sein wird, der vom Leben endgültig Abschied nehmen bedeutet. Dabei, der Abschied hat bereits stattgefunden. In der Dunkelheit des engen Zimmers zu Hause scheint es ein Draußen nicht mehr zu geben ... Ein Weib, vereinsamt, ist ein Nichts, heißt es einmal bei Aischylos. Die hier aber ist ein ganzes Universum des Wissens urn die erste und letzte aller Lebenskräfte, die Hoffnung, und um deren Vergeblichkeit auch. Wenn sie betont bedächtig ein Laken über der Couch ausbreitet, daraus eine Schlafstatt für einen anderen zu machen, dann deckt sie damit zugleich sehr sanft all das wieder zu, was ihr gehört von diesem Leben. Denn dies hier ist nicht mehr ihre Geschichte, es ist die "Geschichte eines jungen Mannes", ihres Sohnes. Susann Hempel spielt an diesem Abend im Ganzen sieben Frauen, letztlich aber doch eine einzige Figur, in all ihren Schattierungen. Sie ist die Eine, die sich verschiedene Seelengewänder anlegt, um dem 18jährigen melancholischen Helden in ganzer Breite als Projektionsfläche zu dienen für dessen Sehnsucht nach Geld, Ruhm und Liebe. Doch Frederic Moreau kann nicht einer einzigen ihrer Seiten habhaft werden. Er perlt ab an ihr, weil er der Naive ist, der von Schmerz noch nicht viel weiß. Sie aber ist nichts anderes als Schmerz. Madame Moreau, die einsame Mutter, und Madame Arnoux, Kunsthändlergattin und erfolglos verfolgtes Liebesobjekt, dazwischen eine mit aller Selbstverständlichkeit aufdringliche Pariser Zimmerwirtin, später noch eine andere, eher devote, als Freundin des entfernten Bekannten Baptiste ein lasziv-abwesendes Mädchen und die spöttelnde Geliebte des Monsieur Arnoux ... Susann Hempel wechselt nicht die Rollenfächer, vollzieht keine Verwandlungen, vielmehr betreibt sie kleine Rollenspiele im Spiel des Lebens, lauter Versuche, einem Mann die Augen zu öffnen. Das Theaterhaus Weimar, unter seinem Regisseur Janek Müller in den letzten fünf Jahren zu einer festen Größe in Deutschlands Freier Szene gereift, hat inzwischen die Narration für sich entdeckt. "Acteurs de la disparition" (Akteure des Verschwindens) heißt die neue Trilogie, die sich Gustave Flauberts ebenso dreiteiligen Revolutionsroman "L'Education sentimentale" vornimmt, als Folie, eine handlungsunfähige Generation zu beschreiben, Mit antibürgerlicher Romantik vergiftet, versuchen junge Menschen, ihre freie Existenz auf dem gewöhnlichen Leben ihrer Eltern aufzubauen und auf dessen materiellem Ertrag. Wo der nicht hält, was er verspricht, bleibt ihnen nur die Gewissheit des Scheiterns. "Flaubert dürfte einer der ersten gewesen sein", schreibt Peter Bürger in "Das Verschwinden des Subjekts", "der der Melancholie des modernen Subjekts eine ästhetische Einstellung abgewonnen hat." Müllers Truppe zieht daraus Gewinn bringend das Material, den Zustand des deutschen - und europäischen - Ostens zu erklären. Der erste Teil, "Erben", geht dem mentalen Wechselspiel zwischen Provinz als Herkunftsort und Metropole als Fiktion von Befreiung auf den Grund. Frederic Moreau, in die ältere, verheiratete Madama Amoux verliebt, erträumt sich eine strahlende Zukunft mit dem Erbe seines Vaters. Als das ausbleibt, hofft er auf den Onkel. Doch auch dieser wird sich als das falsche Pferd erweisen. Die hochfahrenden Träume zerrinnen Stück für Stück, zurück bleibt die unendliche Tristesse eines unmotivierten Daseins. Der Niedergang spielt sich in engen Räumen ab, die links und rechts hinter im rechten Winkel aufgestellten DDR-Schrankwänden liegen. Ein kleines Publikum, höchstens dreißig an einem Abend, blickt jeweils auf drei Monitore und sieht das Duo der Einsamkeit nur dann leibhaftig, wenn es aus der einen Schrankwand heraus und in die andere hinein steigt. Und immer wartet einer auf den anderen, Susann Hempel und, als Frederic Moreau, Olaf Helbing (Ich sag's lieber gleich: mit dem Autor weder verwandt noch verschwägert ...). Müller hat hier ein ort - und ruheloses Paar inszeniert, das sucht urn des Suchens willen. In der Frau verfängt sich dabei die Trägheit des Mannes, der meint, das sicher geglaubte Glück werde sich schon einstellen. Doch all die absehbaren Enttäuschungen sind ihr bereits eingeschrieben. Sie sind das Produkt eines Umwandlungsprozesses, der sich in den Falten ihres Kleides abspielt. Das Kleid! Susann Hempel trägt es nicht als Kostüm, sondern als dunkle, schwarze Falle. Ganz und gar Flauberts Erzählstrukturen materialisierend, lässst sie darin die mangelhafte Persönlichkeit ihres Gegenübers nach und nach verschwinden. Ein nebensächlicher Gegenstand, ein Ding bekommt an ihrem Körper den Stellenwert eines Fixpunktes, der aber irritiert, ablenkt, an dem das Auge hängen bleibt und so die Personen beinahe vergessen macht. Es ist eine Art Polonaise, die sie umschließt, mit wohl geschnürter Taille, streng geschlossenem Hals und dem unvermeidlichen Cul de Paris. Dazu hoch frisierte Haare; ein zierliches Gesicht leuchtet daraus hervor. Das an die Schwere der Existenz gemahnende Kleid zieht seine Trägerin aber nicht mit sich hinab, Susann Hempel schwingt sich damit grazil empor, schwebt haltlos über die Szene. Sie entzieht sich damit dem Zugriff des Sehnsüchtigen, der nie ein Retter werden kann. Sie trägt das Kleid als Symbol dafür, dass eine es vorzieht, sich in Einsamkeit einzuschließen, wenn keiner sonst das Heft des Handelns ergreift. Susann Hempel, keine 21 Jahre alt, geboren im thüringischen Greiz, spielt hier souverän auf der Klaviatur der Gefühle. ... Während sie an der Bauhaus Universitat Mediengestaltung studiert, pflegt sie auf dem Theater ihren mal störrischen, mal etwas zynischen Ton, der bestechend provokant werden kann. Ihr spielerischer Minimalismus macht vor allem empfindlich für das, was sie nicht sagt. Bei den "Erben" erreicht diese Kunst ihren ersten Höhepunkt. Noch nie, sagt sie selbst, habe sie präziser an dem gearbeitet, was hinter den Sätzen liegt. Aber sie braucht die Worte nicht unbedingt. 1m Gegenteil erzählt sie stumm von der Tödlichkeit des Wortes, das hilflos die Leere vertreiben will anstatt sie auszufüllen. Als Geliebte des Kunsthändlers Arnoux, der Frederic zufällig begegnet und die er mit dessen Frau verwechselt, blickt sie am Ende eines kurzen Gesprächs in bitterster Ernsthaftigkeit zur Seite, wissend, dass ihre Sticheleien gegen den jungen Mann die eigene Tristesse nicht schmälern, sondern nur noch spürbarer werden lassen. Und als Madame Amoux antwortet sie dem verlegen drauflos plappernden Frederic wiederholt mit nicht mehr als einem "Mmh ...". Ihre kleinen Gefühlsgeräusche sind wie ein innerer Schrei, der die unentwegte Selbsttäuschung eines ziellosen Lebens beklagt. Dann tritt sie an Frederics Arm hinaus auf die im Nebel liegende Straße, betrachtet tapfer lächelnd die Schaufenster eines Porzellangeschäftes und sieht aus dabei, als habe sie Hermann Hesse im Sinn: "Wahrlich, keiner ist weise, / der nicht das Dunkel kennt, / das unentrinnbar und leise / von allen ihn trennt." ...
Michael Helbing, Theater der Zeit, 04/2004