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>>EMPTY ROOMS / COMPLETELY FURNISHED
>>ABTRÜNNIG


Schlimm, diese Kulturbürger
Janek Müller dramatisiert Reinhard Jirgls Roman "Abtrünnig" im HAU3

Es beginnt mit einer Enttäuschung: Nein, er hat seinen geerbten Bauernhof im Wendland samt neuem Käufer nicht in die Luft gejagt, sondern brav den Zug nach Berlin genommen, wo seine Psychotherapeutin und Geliebte ihm nun   diese Explosionsfantasie aus dem Kopf treibt. Nichts also mit dem "Großen Abtrünnigen Leben -: Nurreich" ist er geworden, was für den namenlosen Ich-Erzähler und "Gälld"-Verächter klingt wie eine Beleidigung. Dabei ist die "Abtrünnigkeit" längst sein Lebenselixier. "Gier nach Leben", schonungslose Wahrhaftigkeit ist damit gemeint, und tatsächlich wuchern Erzählungen, Analysen und theoretische Einlassungen gleich mehrerer abtrünniger Ichs durch Reinhard Jirgls collagehaften, sprachmächtigen Roman "Abtrünnig". Etwa auch das Ich eines verliebten Soldaten an der polnischen Grenze, der für die Ukrainerin Valentina alle Linien in seinem Leben verschiebt. Beherrschend aber bleibt der sezierende, düstere Blick des gegen alle Oberflächen und Uniformierungen anschimpfenden Journalisten und Albträumers aus dem Wendland. Denn er ist auch eine Maske des Romanciers selbst: "Lebens Feigling" und Lebens-Ausgräber zugleich. Ein unermüdlich sich selbst und die Welt quälender Analytiker der Widersprüche und Überschreitungen, ein zutiefst subjektiver Schwadroneur, der West- und Ostperspektiven untergräbt und zugleich an Selbstschwäche zugrunde geht.   "Abtrünnig" ist auch ein böser Berlin-Roman, der in der Anatomie der Stadt die Gesellschaft der Jahre 2000 bis 2004 seziert. Mit diesem physiognomischen Blick setzt auch Janek Müller ein in seine Bühnenadaption. Gegen die schwarzgallige Wut und Schwermut aber, mit der Jirgl jede Haustüröffnung zu einem "dämokratischen" Höllenschlund macht, lässt Müller über der kleinen Spielfläche im HAU3 die freundlich gelbe Plastikwolke einer riesigen Baustoff-Tüte schweben: Alles nur harmlose Luftschlösser hier. Deshalb aber verirrt sich auf dieser Bühne auch niemand mehr in den Kellerfluchten der Erinnerung und dem gegenwärtigen "Gesellschaftskrieg", wie Jirgl ihn beschreibt. Man befindet sich im Alice-Land hinter den Spiegeln, wo alles bereits entschieden ist und der Erzähler-Journalist sich von Beginn an als gespaltene Person vorstellt. Man schiebt das Plastik hin und her, ebenso wie eine enge, schwarze Kammer, die als Grenzkorridor fungiert, durch die die Figuren in den Traum treten. Hier lebt nur noch die Spezies des "Baustellen-Typus", wobei es zu den stärksten Momenten gehört, wenn Ronny Marzillier diesen "Typus" so hysterisch skurril über die Bühne hüpfend erklärt, als imitiere er die Jirgl'sche Privatorthografie gleich mit. In seinem bunt karierten Pullunder allerdings gleicht er genau dem Kulturbürger, gegen den sein Pendant im Roman Gift und Galle speit. Janek Müller inszeniert einen bonbonbunten Tagtraum von den Schrecken der "zersplitterten Zeit". Was ihm fehlt, ist der abtrünnige Nachtblick, der gerade in dieser Zersplitterung auch die aufbrechende Wahrheit erkennt. HAU3, 13., 17. bis 19. Okt., 20 Uhr

Berliner Zeitung, Doris Meierhenrich, 13.10.2007